„Frau Schröer, das mit dem Arbeiten können Sie vergessen.“

Andre Tia ich Trennung

Ich wollte nie selbständig werden.

Selbst und ständig, du weißt nie, wann das nächste Geld reinkommt, darfst nicht krank werden oder sonstwie ausfallen und diese Existenzängste…. Ich habe immer in kleinen Unternehmen gearbeitet und habe all die negativen Seiten hautnah mitbekommen.

Die Vorteile der Selbständigkeit erschienen mir viel zu klein.

Ich war eine glückliche und genügsame Angestellte.

Der 28. April 2012 veränderte alles in meinem Leben.

An jenem Samstag kam mein damaliger Freund zu mir nach Köln, begrüßte mich mit einem Kuss und eröffnete mir aus heiterem Himmel, dass er sich von mir trennen wolle. Für mich brach eine Welt zusammen – und er zog übergangslos zu seiner neuen Partnerin, einer netten Arbeitskollegin.

Meine Tochter verlor völlig den Boden unter den Füßen, sie trank Alkohol, wurde gewalttätig und ging nicht mehr zur Schule.

Ich war machtlos und kam nicht mehr an sie heran.

Bei mir triggerte der Schmerz über die Trennung einen tieferen Schmerz, den ich lange Zeit gründlichst verdrängt hatte.

Innerhalb kurzer Zeit verschlechterte sich meine seelische Gesundheit und wir landeten wegen meiner Tochter bei einem Kinderpsychologen. Er schaute mich scharf an und sagte:

Frau Schröer, Sie sollten sich stationär behandeln lassen.

Meinen Einwand, dass ich alleinerziehend war, ließ er nicht gelten: Dann müssen Sie Ihre Tochter halt abgeben und staatlich unterbringen.

Letztlich befolgte ich doch seinen Rat und verlor so nach meinem Partner meine Tochter und anschließend meinen Job.

Nach zwei Klinikaufenthalten von insgesamt 15 Wochen stellten die Ärzte einen ganzen Katalog von Diagnosen wie:

Rezividierende Depression und komplexe Posttraumatische Belastungsstörung.

Ich war psychisch krank. Ganz offiziell.

Verschiedene Gutachter attestierten mir:

Frau Schröer, das mit dem Arbeiten können Sie vergessen.

Für mich brach eine Welt zusammen. Doch die medizinische Reha zeigte klar und deutlich: zurück ins Büro so wie vorher war unmöglich.

Doch da war ich gerade Anfang 40.

Was sollte ich denn jetzt mit dem Rest meines Lebens anfangen?!

Mein bester Freund hatte 2012 gerade sein Segelbusiness aufgezogen und brauchte meine Hilfe: WordPress Webseiten, Facebook Marketing, Videos, Newsletter, Texte für Suchmaschinen.

All das, was mir bereits beruflich über den Weg gelaufen ist und worin ich hohe Kompetenzen habe. Er hat mir völlig freie Hand gelassen und meinte: du kannst das ganz selbständig machen. Als wenn du selbständig wärst.

Selbständig.

*seuftz”

Da war es wieder, das böse S-Wort.

Doch so hatte ich zumindest eine neue Definition für mich.

Eine neue Antwort auf die simple Frage: was machst du so beruflich?

Ich bin selbständig, Webseiten und Marketing und so.

Eine sehr vage Aussage, doch ich wollte ja nie selbständig sein, ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, was ich denn machen wollte. Es gab bisher nur Plan A: glückliche Angestellte –  keine anderen Optionen.

Also fing ich an, mir meinen Plan B zu basteln.

Da ich ganz am Anfang stand und als attestierte “das-mit-dem-Arbeiten-können-sie-vergessen-Frau” sehr viel Zeit hatte, ging ich in Köln raus zum Netzwerken.

Ich hatte keine Ahnung, was ich anbieten wollte, was mein Stundensatz war oder was ich auf meiner Webseite schreiben sollte. Klar war nur, dass ich gute digitale Fähigkeiten hatte und betriebswirtschaftliche Kenntnisse.

Deshalb ließ ich mich von den Menschen, die ich traf, treiben. Hörte zu, was sie brauchten, half ihnen mit meiner Beratung und überließ ihnen meine Bezeichnung:

Social Media Manager, Social Media Expertin, Webdesignerin.

Nichts davon spiegelte das wieder, was ich machen wollte. Doch eine bessere Antwort hatte ich leider auch nicht.

Jedoch endlich wieder eine Aufgabe, die mich ausfüllte und glücklich machte!

Noch viel mehr war ich darauf bedacht, mein “böses Geheimnis” zu wahren. Denn wer engagiert schließlich schon jemanden mit einer psychischen Erkrankung?!

Mein Makel war für mich gleichbedeutend mit maximal unprofessionell. Bis ich auf Barbara Lampl, bekennende Asberger Autistin, traf.

Sie zeigte mir, dass es viele andere wie mich gab, dass man sein Leben trotzdem selbst gestalten kann und gab mir eine Perspektive.

Mit Barbara fand ich eine Positionierung, mit der ich starten konnte, baute meine ersten Zielavatare und hielt meinen ersten Vortrag.

Meine WordPress Webseite konnte ich jetzt komplett überarbeiten und sie sah nun sehr viel professioneller aus. Mehrmals pro Woche war ich in verschiedensten Netzwerken und Meetups unterwegs und saugte wie ein Schwamm alles in mich auf.

Meine Kundinnen fanden offline zu mir, denn sie hatten Probleme mit dem online. Doch da wollten sie unbedingt hin, deshalb brauchten sie meine Hilfe.

Immer mehr kristallisierte sich heraus, dass meine Online-Kenntnisse genauso wichtig waren wie meine betriebswirtschaftlichen.

Dein Business fängt ja nicht beim Marketing an oder hört bei der Webseitenerstellung auf.

Wichtig ist, dein Business insgesamt zu sehen und verstehen zu können. Und das gehörte schon immer zu meinem Job, darin hatte ich Erfahrung.

Die digitale Betriebswirtin war geboren.

Ich hatte endlich eine Bezeichnung für mich gefunden. Ja natürlich, danach googelt niemand. Doch es half mir zu definieren, worüber ich sprechen wollte, was für Beratungen ich anbiete.

Meine Kundinnen hatten zumeist noch eines gemeinsam: an irgendeinem Punkt in ihrem Leben konnten sie nicht mehr so funktionieren wie bisher. Durch Depressionen, Traumata oder andere psychische Erkrankungen änderte sich alles.

Ihr Plan A ging nicht mehr auf und sie passten ebenfalls nicht in das Schema, das die Gesellschaft für Menschen mit psychischen Erkrankungen vorgesehen hat.

Auch das hatten wir gemeinsam und ich habe mich entschlossen, mein Schweigen zu brechen.

Psychische Erkrankungen sind Teil unseres Lebens, Ausgrenzung und Scham helfen hier nicht weiter. Sondern Mut, Verständnis und individuelle Lösungswege. Doch das bieten die üblichen Stellen unseres Systems nicht. Sie kennen nur zwei Wege: zurück in das System, was dich krank gemacht hat (eventuell mit einem neuen Beruf) oder in die Verrentung.

Doch dein Leben braucht eine Neudefinition, einen neuen Sinn, wie auch immer der für dich aussehen mag.

Letztens wurde ich gefragt:

bist du erfolgreich?

Naja, im herkömmlichen Sinne nicht, denn ich habe

  • keine 100.000 €
  • keine Angestellten
  • kein Haus
  • keine Yacht
  • noch nicht mal ein Auto.

Doch was ich habe ist

  • einen Job, den ich liebe
  • eine Tochter, die ihren Weg im Leben geht
  • einen Menschen an meiner Seite, der mich unterstützt und liebt
  • und wunderbare Communities, in denen ich sein darf, wie ich bin.

Das ist mehr, als ich 2012 zu hoffen gewagt habe. Und darin will ich dich mit meinen Heldinnen Geschichten unterstützen.

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